Menschen sind schon immer neugierig gewesen und hatten den Wunsch, neue Sachen zu entdecken und das Unbekannte zu erforschen. Eins dieser Unbekannten war wohl das Meer. Wenn man am Ufer stand und über die Weiten des Meeres blickte, wollte man gerne wissen, was sich wohl am Ende des Horizontes befand. Diese Neugierde animierte den Menschen dazu, Schiffe zu bauen. Diese Schiffe erlaubten es den Menschen, die grosse, weite Welt und auch das Meer zu erforschen.
Segelschiffe erforschten zuerst die nahegelegenen Gewässer, aber mit der Zeit wagte man sich immer weiter heraus nach der Suche nach neuen Ländern und Seewegen. Der Wagemut von Leif Eriksson, Christopher Columbus, Ferdinand Magellan und anderen öffneten die Welt mehr, als man sich vorstellen konnte. Dieses hatte sowohl positive als auch negative Auswirkungen. Im 16. Jahrhundert hatten europäische Forscher angefangen, die Stellen zu kolonisieren, die sie entdeckt hatten. Im 17. Jahrhundert florierte der Handel zwischen den Kolonien und dem Mutterland. Segelschiffe trugen die Produkte über die Ozeane von Land zu Land. Krieg und Aggression brachten militärische Macht aufs Meer. Selbst in den weit entferntesten Winkeln der Erde gab es nur wenige Menschen die keine Verbindung, auf welche Weise auch immer, zum Meer hatten.
Es gab keine künstlichen Antriebe um Schiffe durch das Wasser zu bewegen. Kein Benzin, kein Diesel oder Atomkraft, nur die menschliche und tierische Kraft, und die Kraft des Windes. Ein oder zwei Mann konnten ein kleines Ruderboot rudern, oder ein Dutzend konnten ein römisches Kriegsschiff oder ein Wikingerschiff rudern, der Wind machte die Sache aber wesentlich leichter. Er blähte die Segel auf und bewahrte so die Kraft der Männer. Dank des Windes konnte man schneller große Distanzen überwinden, und der Wind war frei für jeden, der ihn nutzte. Dies soll nicht bedeuten, dass es keine harten Arbeiten mehr an Bord gab.
Trotz der Tatsache, dass der Wind das Schiff fortbewegte, musste dieser ja irgendwie eingefangen werden. Segel mussten gehisst und in den Wind gestellt werden, blies der Wind zu stark, mussten sie gerefft oder eingeholt werden. Wollte das Schiff den Hafen verlassen, musste der Anker gehievt werden, machte das Schiff Wasser, mussten die Pumpen bedient werden. All diese Arbeit wurde von den Männern an Bord gemacht. Sie hatten zwar den Vorteil, Flaschenzüge und Winden an Bord zu haben, aber bedient werden mussten diese immer über menschliche Muskelkraft.
Lieder-Seesack:
Seemannslieder und Shanties
zum Mitsingen
Taschenbuch von Reinhard C. Böhle (Autor)
Die Seemannskiste 1:
Eine Sammlung
der schönsten und bekanntesten Seemannslieder
Taschenbuch von Roland Reiny (Herausgeber)
Rolling Home:
Seemannsbräuche,
Shanties und die Faszination der Grosssegler
Udo Brozio und Manfred Mittelstedt
Shanties.
Die rauhen Gesänge der alten Fahrensleute.
von Gilbert Obermair
Windjammerlieder.
Das rauhe Leben und die lustigen Lieder
der alten Fahrensleute
von Stan Hugill
Songs of the Sea
Gebundene Ausgabe
von Stan Hugill
Obwohl die Engländer es vorziehen, das Wort „shanty“ zu buchstabieren, ist der Begriff „chantey“ wohl vom französischemWort„chanter“ (Sänger) abgeleitet. In Cassell’s Französisch Wörterbuch ist das Wort folgendermaßen definiert: singen, sprechen, lesen; musikalisch: zwitschern, trillern, krähen. Tatsächlich ist das französische Wort „chantez“ der Befehl, zu Singen. Die ersten chanteys waren einfach herausgeschrieene Worte, bei der die Arbeit auf bestimmte Silben oder Wörter ausgeführt wurden. Mit der Größe der Schiffe wuchsen auch die Anforderungen an die Crew und an den Shanties.
Die meisten dieser Arbeitslieder hatten einen Vorsänger (shantyman) und einen Chor (crew). Lieder an Seilen und Taue waren zwar anders als z.B. die an der Ankerwinde, aber in fast jeden Fall sang eine Person die Leadstimme und die Crew antwortete im Refrain. Die Idee, anstrengende Arbeit mit Anruf und Antwortliedern zu koordinieren gibt es wohl bis heute noch in jeder Kultur. In China gibt es zum Beispiel eine Felsschlucht, die viele Wildwasser-Rafting Touristen anzieht. Sie werden per Hubschrauber für einen zweistündigen Treck den Stromschnellen entlang eingeflogen. Die Einheimischen verbringen dann die nächsten zwei Tage damit, die Boote entgegen der Strömung zurückzuziehen. Der Leiter dieser Aktion ruft einen Satz aus und die Leute, die an den Seilen ziehen, an denen die Boote befestigt sind, antworten mit einen Refrain. Dabei bewegt sich das Boot ca. 1Meter. Das machen sie immer und immer wieder, und zwar mit den Liedern, die man schon seit dem 19. Jahrhundert auf Segelschiffen, beim Eisenbahnbau und in Holzfällerlagern gehört hat.
Zu jeder Zeit, in der es eintönige, arbeitsintensive, sich immer wiederholende Arbeit gab, wurde Musik genutzt, um die Zusammenarbeit zu vereinfachen. Wenn sich eine Gruppe von Leuten versammelte, um eine schwere Arbeit zu verrichten, mussten sie dies als Einheit tun. In einer Gruppe konnten Aufgaben gelöst werden, die man alleine nie geschafft hätte, das war und ist der Grundgedanke von Gemeinschaftsarbeit. Genau das war auch das Ziel des Shanties an Bord. Er koordinierte und richtete die Aufmerksamkeit auf die Arbeit, die ausgeführt werden musste und lenkte vielleicht sogar etwas von der Schwere der Aufgabe ab, er inspirierte die Mannschaft zum Teamwork um ein Ziel zu erreichen. Chanteying unterschied auch die Mannschaft von den Offizieren an Bord. Er demonstrierte, wer die Arbeit machte und wer die Order dazu gab. Shanties gaben der Mannschaft die Möglichkeit, ihre Ansichten und Gefühle auszudrücken, ohne mit Bestrafung rechnen zu müssen, darum spielten Shanties eine große Rolle an Bord und im Leben der Seeleute.
Ein guter Shantyman, sagte man, war soviel wert wie zehn Mann an einem Tau.
Als der Schiffbau sich Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelte, hatte der Shanty sein „Goldenes Zeitalter“. Die Industrielle Revolution forderte größere und schnellere Schiffe. Rohmaterialien mussten geliefert werden, Endprodukte in die Länder der Welt verteilt werden. Die Schiffe wurden zwar größer, aber proportional dazu die Mannschaften kleiner. Die lange, aber schmale Bauart der neuen Schiffsgeneration erhöhte zwar die Geschwindigkeit, büßte dafür aber Ladekapazität ein, was natürlich die Gewinne der Eigentümer schmälerte. Dies wiederum hatte zur Folge, das die Mannschaftsstärke an Bord verringert wurde um wirtschaftlicher fahren zu können. Zwei weitere Faktoren trugen zur Erhöhung von Größe und Geschwindigkeit bei. 1844 wurde ein Handelsvertrag mit China geschlossen. Der Teehandel erforderte schnelle Schiffe, damit der Tee auf der Reise nicht verdarb. Dies bedeutete bessere Qualität und dadurch einen höheren Ertrag. Dann wurde 1848 bei Sutter`s Mill, Kalifornien, Gold gefunden. Als das im Osten bekannt wurde, begann 1849 der „ California Gold Rush“. San Francisco, das einmal ein kleines Missionsdorf war, wurde fast über Nacht zu einer Stadt. Immer mehr Menschen wollten in den Westen um ihr Glück zu finden und reich zu werden. Am meisten verdienten allerdings die, die schnell und günstig Baumwolle, Spitzhacken, Bergarbeiterausrüstung und Lebensmittel transportieren konnten. Geschwindigkeit war gefragt. Wenig Laderaum auf Schiffen bedeuteten gleichzeitig schnelle Passagen. Damit „explodierte“ auch der Shanty auf amerikanischen Segelschiffen.
Ein „Shantyman“ zu sein war keine offizielle Position an Bord. Je mehr Erfahrungen ein Seemann hatte, desto höher war sein Rang und seine Bezahlung. Genauso war es mit der Fähigkeit, Shanties zu singen. Es war etwas, was die Seeleute im Verlauf ihrer Fahrenszeit lernten. Einige hatten eine natürliche Begabung, andere nicht, einige sangen mehr als andere und einige wurden mehr als andere von der Crew akzeptiert. Lieder wurden von Mann zu Mann weitergegeben. Durch diese mündliche Tradition gibt es auch viele verschiedene Varianten gleicher Lieder. In der Tat ist das Vorhanden sein verschiedener Variationen ein guter Hinweis auf die Echtheit des Liedes. Die mündliche Tradition hatte seine Vor- und Nachteile. Einerseits erlaubte es Leuten ohne musikalische Ausbildung Musik und Folklore zu erlernen, sie zu Erhalten und zu überliefern. Andrerseits gingen durch die mündlichen Überlieferungen viele Melodien und Texte für immer verloren.
Die Wurzeln der Shanties und Seemannslieder sind die anglo- irischen und die afrikanisch- karibischen Überlieferungen. Jede Überlieferung hat eigene Merkmale. Afrikanisch- karibische Musik tendiert dahin, eine Geschichte zu erzählen oder ein poetisches Bild innerhalb jeder Strophe zu präsentieren. Harmonien werden oft wiederholt, wenn mehrere Sänger anwesend sind. Sie ist rhythmisch gesinnt, oft synkopiert und animiert zur Improvisation. All dies sind typische Merkmale der afrikanischen Kultur, so wie wir sie noch heute vorfinden, sei es beim Blues, Gospel, Jazz oder sogar beim Rap. Die rhythmischen Fundamente dieser Musik waren für die Arbeit an Bord besonders geeignet. Auf dem Schiff war Improvisation wichtig, denn der Shantyman musste das Lied so lange am „Leben“ halten, bis die jeweilige Arbeit beendet war.
Lieder anglo- irischer Herkunft werden meist einstimmig gesungen. Es gibt für sie zwar keine festen Regeln, wie sie aufgebaut sind, aber oft erzählen sie kleine Geschichten. Jede Strophe muss an seine richtige Stelle stehen, um einen Sinn zu ergeben. An Bord bedeutete das, dass die Geschichte kurzerhand enden musste, wenn die Arbeit schnell erledigt war. Das Lied, als Werkzeug, endet, wenn die Arbeit getan war. Es gab aber auch Situationen, bei der die Arbeit länger dauerte. Dann musste der Sänger improvisieren, und diese Improvisation musste er sich am Ende des Liedes einfallen lassen.
Irgendwann trafen sich die beiden Musikkulturen. Afrikanische Worte und irische Melodien mischten sich. Irische Lieder nahmen afrikanische Refrains an. Daraus entstanden Arbeitslieder, die Geschichten erzählen, Harmonien benutzen und antreibende Rhythmen haben. In Amerika entstand dadurch die einzigartigartige Form des Shanty.